Ich habe Meinungen zu Matthew Colvilles „Community“-Video.

Heute wurde ein Video in einem Discord-Kanal geteilt, ein Essay oder Guide oder irgendwas dazwischen von Matthew Colville, der mir tatsächlich bis dato kein Begriff war. Er hat laut Wikipedia an mehreren Videospielen als Autor gearbeitet und dann einige sehr erfolgreiche Kickstarter-Kampagnen im Rollenspielbereich abgeschlossen, sodass er mittlerweile einen eigenen Verlag hat. Dieser Mensch hat in besagtem Video erläutert, wie man mit Rollenspiel Erfolg hat. Hier habt ihr meinen Senf zu seinen Thesen.

Sei ein aktiver Teil von Communities zu Spielen, die du toll findest

Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden. Allerdings ist Matthew US-Amerikaner und die haben da schon eine etwas andere Kultur, und Smalltalk und großzügige Komplimente (die man vielleicht doch nur halbherzig meint) gehören da elementar dazu. Für uns Kartoffeln hingegen ist das oft eine ganz schöne Überwindung und es fällt oft leichter oder fühlt sich angebrachter an, einfach nur mit Emojis oder Likes zu reagieren. Das zahlt aber nur wenig auf Matthews Ratschlag ein, denn es geht im Kern darum, sich Bekanntheit und einen guten Ruf aufzubauen. Genauso kann es anders herum für andere merkwürdig wirken, wenn ich in einer deutschsprachigen Community plötzlich das US-Amerikanische Besteck auspacke. Kurzum: Nicht ganz so einfach bei uns – und dabei habe ich das Thema Konsistenz noch nicht einmal erwähnt, denn um sich in bedeutungsvoller Art und Weise einbringen zu können, muss man erstmal mit dem Takt der Community mithalten können.

Baue Beziehungen über diese Communities auf

Ich habe mehrere Jahre lang in meinem Job aktiv „networking“ betrieben und kann sagen: Das ist ne Menge Arbeit und wenn man nicht dran bleibt, riskiert man, schnell in Vergessenheit zu geraten. Ich war während dieser Zeit – auch gezielt in meiner Arbeitszeit, also zusätzlich zu meinen übrigen Aufgaben – so gut wie täglich auf Twitter aktiv und hab aktuelle Themen kommentiert, Profile auf mehreren Seiten gepflegt, Veranstaltungen besucht (oft abends), wurde auf Veranstaltungen eingeladen und hab mich auf fast jede Bühne gestellt, die mich haben wollte. Ich sag’s mal so: Ich bin froh, das mittlerweile nicht mehr in diesem Umfang machen zu müssen. Aber ohne Frage ist es wertvoll und effektiv. Es gehört gerade im kreativen Bereich auch nicht nur eigene Arbeit und Veröffentlichungen dazu, sondern auch das Rezipieren und Kommentieren anderer Werke. Das auf-Stand-bleiben im Bereich der Community, das Hören bestimmter Podcasts oder schauen bestimmter Kanäle, über die sich „die Community“ definiert. Und die starke Fragmentierung der deutschsprachigen Rollenspiel-Community als größeres Ganzes über verschiedene Foren, Discord-Server und jeder Menge Influencer-Folgschaften quer durch alle  Plattformen macht es auch gar nicht so leicht, erstmal eine passende Community zu finden.

Bewerbe deine eigene Arbeit in diesen Communities

Wenn man irgendwo bekannt ist, genießt man einen – hoffentlich guten – Ruf. Das verleiht Empfehlungen mehr Gewicht und das gilt auch genauso für eigene Werke, die man dort vorstellt. Ich gebe Matthew hier uneingeschränkt Recht, denn so funktionieren wir Menschen nun mal. Wir legen Wert auf persönliche Empfehlungen und sind eher geneigt, Menschen Geld zu geben, die wir schon von anderswo kennen. Bis man aber erstmal so einen Ruf aufgebaut hat, kann einige Zeit vergehen. Was übrigens passiert, wenn man ein Rollenspiel-Crowdfunding in die Welt setzt, ohne vorher gut vernetzt zu sein, konnte man kürzlich in einer exzellenten Manöverkritik eines Autors auf Reddit lesen.

Baue eine eigene Community rund um deine Arbeit auf

Hier wartet schon die nächste Marathon-Aufgabe. Wir alle hatten sicher schon ein Erlebnis mit einem Discord-Server, der urplötzlich verwelkte, nachdem sich die Schlüsselperson aufgrund veränderter Lebensumstände oder neuer Interessen zurückzog. Community-Aufbau und insbesondere -Pflege sind in ihrem Umfang nicht zu unterschätzende Aufgaben und auch eigentlich nicht das, was man als Spieledesigner*in vordergründig machen möchte, wenn man dieselbe Zeit auch in die (Weiter)Entwicklung der eigenen Werke stecken könnte.

Was Matthew in diesem Kontext als elementar wichtig erachtet, und auch hier stimme ich ihm voll zu, ist Moderation. Man möchte keine Arschlöcher, Miesepeter und Leute haben, die nur andere schlecht machen oder gar Grenzen übertreten. Negatives Feedback und ehrliche Kritik muss man hier natürlich differenzieren. Sie sollten per se nicht unerwünscht sein, aber wenn sich eine Person nur und ausschließlich in diesen Disziplinen betätigt, ist die Community ohne sie wahrscheinlich besser dran. Und das gilt auf allen Kanälen: Discord, Youtube-Kommentare, Antworten auf Microblogging-Diensten wie Mastodon oder Bluesky oder Kommentare unter Produkten auf itch, DriveThru oder in eigenen Shop. Blocken ist nicht leicht und fühlt sich oft gemein an, und irgendwie verliert man dadurch ja auch Publikum, oder? Matthew sagt: Hater sind keine Kund*innen. Ich sage: Blocken ist Selbstfürsorge. Eine Moderation sollte jedoch stets eine transparente Grundlage haben, also Verfahrensregeln für die Community. Es ist keine Schmach, sich hier bei Communities, in denen man sich selbst wohlfühlt, zu bedienen. Aber Regeln wollen auch durchgesetzt werden und dafür ist es nötig, häufiger am Tag in den Kanälen der eigenen Community reinzuschauen, damit eine Situation nicht über die Maßen eskaliert.

Schau dir genau an, wer deine eigene Community ist und was sie wollen

Das ist im Kern eine kund*innenorienterte Produktentwicklung. Wenn die eigene Community mit Vorliebe diskutiert, welche Regelversion der Geburtsphase von D&D die einzig wahre ist, wird ein Erzählspiel vermutlich auf wenig Anklang stoßen. Und Menschen, die überwiegend auf Cons spielen, werden an One-Shots mit kurzer Einarbeitungszeit mehr Interesse haben als an epischen Kampagnen mit mehreren hundert Seiten und umfangreichen Extras für virtuelle Tabletop-Systeme. Leider (oder zum Glück?) ist eine Community selten so homogen, dass es genau die eine Sache gibt, die alle wollen. Work-in-Progress-Schnipsel oder kollaboratives Gestalten könnten helfen, ein Gefühl für die Stimmung zu bekommen.

Ziehe Grenzen, denn du kannst es nicht allen Recht machen

Grenzen ziehen finde ich auch super wichtig, aber gerade wenn es um Feedback zu kreativen Arbeiten geht, benötigt dies eine klare künstlerische Vision oder zumindest eine Linie. Matthew beschreibt hier das Phänomen von Menschen, die eigentlich ein ganz anderes „Produkt“ im Sinn haben und durch stetige Kritik und Vorschläge versuchen, das eigene Projekt in genau diese Vorstellung zu transformieren. Ich habe auch schon Feedback-Threads zu Spielideen gelesen in denen so viel verschiedene und auch von der eigentlichen Idee abweichende Vorschläge geäußert wurden, dass die Person mit der Spielidee am Ende gar nicht mehr so recht wusste, was sie mit der Idee nun machen sollte. Matthew geht hier erneut kaufmännisch ran und sagt, dass stänkernde Leute keine Kund*innen seien und wegmoderieren hier das Mittel der Wahl sei.

Arbeite für deine Community anstatt „für alle“

Auch hier ist die eigene künstlerische Vision wieder der Kern. Matthew orientiert sich natürlich wieder an dem Leitgedanken, dass die Community die Basis für die Kundschaft ist. Ich könnte hier jetzt wieder aus meinem Job erzählen und mit Schmerzpunkten und versteckten Wünschen und Bedürfnissen anfangen, aber das will ich eigentlich gar nicht. Spieldesign ist nämlich nicht mein Job, sondern mein Hobby. Aber dazu kommen wir gleich.

Gratisprodukte entwerten die eigene Arbeit

Matthew proklamiert zunächst, dass ein Produkt auch einen Preis braucht und dieser nicht null sein darf. Er spricht über den Wert der eigenen Arbeit (und die Entwertung dieser, wenn man Spiele gratis anbietet) und über die „Wertigkeit“ des Produkts, die ein angemessenes Preisschild kommuniziert. Hier muss ich ein bisschen ausholen.

Matthew ist US-Amerikaner und Unternehmer. Der englischsprachige Markt, insbesondere in den USA, ist groß genug, damit man mit selbst desigten Spielen oder Spielmaterial seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. In Deutschland ist das unmöglich. Die wenigen Rollenspielverlage, die wir hier haben, verdienen ihr Geld hauptsächlich mit Übersetzungen und Lizenzen. Rollenspieldesign im deutschsprachigen Raum bewegt sich irgendwo zwischen Hobby, Ehrenamt, Nebenjob und gemischter Freiberuflichkeit. Und bevor man „mal eben“ ein Crowdfunding aufzieht, sollte man ein Gewerbe angemeldet haben und in die Preiskalkulation auch die anfallenden Steuern einbeziehen – nur für den Fall, dass es plötzlich durch die Decke geht. Den meisten Kreativen ist das zu nervig und dazu zähle ich mich auch. Ich bin durch meinen Brotjob finanziell so privilegiert, dass ich kein Szenario sehe, in dem Vollzeit-Spieldesign eine ernsthafte berufliche Alternative für mich wäre.

Spätestens an diesem Punkt im Video habe mich gefragt, wie gut Matthews Perspektive auf die deutschsprachige Indie-Szene anwendbar ist. Wenn es sowieso keine Karriereperspektive mit dieser Art von Kunst gibt, brauchen wir den kapitalistischen Ballast mit Preisschildern, Märkten, Kund*innen und dem ganzen Kram überhaupt noch? Oder wäre es vielleicht ganz befreiend, die eigenen Ideen und das eigene Wirken ohne die Verwertungsbrille zu betrachten? Es wird an dieser Stelle leider keine prägnante Antwort von mir geben, weil ich selbst noch auf diesen Fragen herumdenke (und auf der anderen Seite den psychologischen Effekt von „number go up“ nicht verleugnen möchte). Vielleicht habt ihr ja Lust, gemeinsam mit mir zu denken.

Behandle Crowdfunding-Backer wie Kund*innen und nicht wie Community-Mitglieder

Hier geht es Matthew insbesondere um Supportanfragen und Updates zur Kampagne. Kurzum, und da bin ich ganz bei ihm,  Transparenz und Frequenz sind hier der Schlüssel. Ich selbst habe erst vor ein paar Tagen ein Crowdfunding-Update zum Ende einer Kampagne bekommen, in dem das Projektteam angekündigt hat, sich erstmal einen Monat Urlaub zu nehmen um sich vom Stress der Kampagne zu erholen. Fand ich sympathisch und hat mich auch direkt darauf vorbereitet, dass ich in diesem Jahr vom Projekt wohl nichts mehr hören werde.

Community-Moderation ist wichtig. Wertschätze deine Mods und mache ihnen klar, was nicht ihre Aufgabe ist

Je größer die eigene Community ist, desto wichtiger ist Unterstützung in der Moderation. Außerdem können gute Mods entlasten, sodass man sich wieder verstärkt auf die eigene Kreativarbeit könnten konzentrieren kann. Matthew empfiehlt hier monatliche Meetings mit allen Mods und klare Aufgabenabgrenzung, insbesondere zwischen Community-Moderation und Kund*innensupport. Da bin ich wieder ganz bei ihm.

Fazit

Ich habe irgendwo mal gelesen, dass  künstlerische Selbstständigkeit zu mindestens 50% aus Marketing und Vertrieb besteht. Daran wurde ich in diesem Video nicht nur einmal erinnert. Ich frage mich nach diesem Video jedoch, inwiefern künstlerische Selbstständigkeit im Kontext deutschsprachiger Rollenspiele überhaupt ein realistisches Ziel sein kann oder sollte. Vielleicht ist diese betriebswirtschaftliche Diktatur der Unmöglichkeit auch eine Befreiung von der kapitalistischen Tretmühle; eine Chance um einfach mal Dinge zu machen, weil sie cool sind, weil sie sich niemals verkaufen würden oder einfach weil es möglich ist. Vielleicht ist das aber auch nur die alljährliche Konsumdauerbeschallung der Vorweihnachtszeit, die mich nach einer anderen Welt sehnen lässt.

In einem stimme ich Matthew jedoch voll und ganz zu: Communities sind wichtig und es lohnt sich immer, Kontakt zu Gleichgesinnten aufzubauen und zu halten. Communities sind aber auch kein Selbstläufer und brauchen nicht nur Regeln für den Umgang miteinander, sondern vor allem eine konsequente Durchsetzung dieser.

-kiki

6 Kommentare zu „Ich habe Meinungen zu Matthew Colvilles „Community“-Video.

  1. @kritischerfehlschlag.de übrigens höre ich auch aus der englischsprachigen Community öfters, dass es auch dort nur sehr wenig Feedback über das Internet gibt – sogar sehr bekannte Kreative wie Kenneth Hite: Er hat mal gesagt, dass er und andere auch deshalb auf Cons gehen, um neben Rückmeldungen auch das Gefühl von Wertschätzung zu bekommen, von dem sie den Rest des Jahres über zehren können.

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  2. Marketing, Aufmerksamkeitsökonomie, kein Wort über inhaltliche Qualität. Bildet ganz gut ab, was inzwischen quasi überall schief läuft.

    So wird man vielleicht finanziell erfolgreich, aber ein gutes Rollenspiel macht man so nicht.

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