Warum das klassische Kampfsystem vieler Rollenspiele für mich nicht mehr funktioniert – und was ich stattdessen nutze.
– Ein Gastbeitrag von „Cabot“ –
Die Initiative ist ein Grundpfeiler zahlloser Rollenspielsysteme. Sie entscheidet darüber, wer im Kampf zuerst handelt, danach und wieder danach. Doch viele dieser Systeme stammen aus einer Zeit, in der vor allem taktische, rundenbasierte Kämpfe im Vordergrund standen – und wirken heute, mit erzählorientierten Spielstilen, oft wie ein störendes Relikt.
Im Folgenden führe ich Dungeons & Dragons 5e als Beispiel an. Nicht, weil ich D&D schlechtreden möchte – ich habe viele Jahre damit gespielt und mag es noch immer – sondern weil es das bekannteste System ist und viele die Probleme sofort nachvollziehen können.
Warum klassische Initiative mich stört
- Der Bruch im Spielfluss
Kaum heißt es „Würfelt Initiative!“, reißt es mich aus dem Rollenspiel. Der Fokus verschiebt sich: weg vom Charakter, hin zur reinen Mechanik. Aktionen werden plötzlich nur noch angesagt: „Ich greife an. 17 zum Treffen. 9 Schaden.“ Rollenspiel? Fehlanzeige. Und je länger der Kampf dauert, desto stärker setzt dieser Automatismus ein. Dabei bietet gerade der Kampf erzählerisch viel Potenzial: Wie reagiert mein Charakter auf den Gestank des Monsters? Zögert er? Wirft er seinem Freund einen besorgten Blick zu? Aber sobald die Reihenfolge klar ist, dominiert die Routine. Dieser Bruch ist für mich real und ich merke selbst, wie ich jedes Mal ungewollt hineinfalle. - Die starre Reihenfolge
Die Initiative bestimmt nicht nur, wer handelt – sondern verhindert häufig sinnvolle Teamaktionen. Der Magier möchte einen Feuerball vorbereiten? Pech gehabt. Irgendein Nahkämpfer ist vorher dran und rennt prompt mitten hinein. Koordination zerbricht oft an der simplen Tatsache: „Ich bin jetzt dran.“ Natürlich gibt es eingespielte Gruppen, die das umgehen. Aber in Oneshots, Con-Runden oder neuen Gruppen passiert es ständig: Die Mechanik diktiert das Verhalten, nicht die Logik der Situation. - Balanceprobleme
Für die Spielleitung wird die Balance unnötig schwer: Bossmonster brauchen ein absurd hohes Lebenspunktepolster, nur um sicherzugehen, dass sie überhaupt einmal handeln, bevor sie niedergemäht werden. Mit Überraschungsrunden wird es noch chaotischer. Einige Spielleitungen passen dann Werte „on the fly“ an – aber das entwertet Würfelwürfe komplett. Wenn sowieso alles heimlich korrigiert wird, kann man die Würfel auch gleich weglassen. - Fehlende Gruppendynamik und Taktik
Ohne Absprache ist echte Taktik kaum möglich. Buffs verpuffen, weil sie „zu früh“ kommen. Clevere Kombos scheitern an der Spielerreihenfolge. Die Erzählung leidet: Ein Kleriker segnet die Waffe des Kriegers, dessen Augen aufleuchten… und fünf Aktionen später – nachdem alle möglichen Leute irgendwas getan haben – kommt der Krieger endlich dran. Der Moment ist tot. - Kaum echte Dynamik
In vielen D&D-Kämpfen agiert jeder für sich. Nur wenn jemand fast stirbt, entsteht kurz echte Interaktion. Es könnte so viel lebendiger sein: gemeinsames Vorgehen, Pläne, aufeinander aufbauende Aktionen. Aber dafür bräuchte es ein anderes System.
Andere Systeme machen es besser – aber nicht perfekt
PbtA
Entscheidet rein nach innerweltlicher Logik. Das ist wunderbar erzählerisch und flüssig, aber die Verantwortung liegt komplett bei der Spielleitung – und Balance ist kaum vorhanden.
Daggerheart
Sehr dynamisch, Würfel bestimmen, welche Seite handelt. Die Gruppe entscheidet innerhalb der Seite selbst. Ein guter Mittelweg, aber natürlich nicht universell einsetzbar.
Meine Lösung: Eine einfache Seiteninitiative
Ich verzichte oft komplett auf einen „Kampfmodus“. Stattdessen läuft die Erzählung weiter, logisch, organisch. Doch wenn es übersichtlich bleiben muss – etwa mit Battlemaps – nutze ich folgende Methode:
So funktioniert sie:
- Zu Beginn wird ein W6 gewürfelt.
- 1-3: Die Spielleitung beginnt
- 4-6: Die Spielenden beginnen
- Danach handeln einfach abwechselnd die beiden Seiten.
- Die Spielenden entscheiden frei, in welcher Reihenfolge sie agieren.
- Wenn alle durch sind, beginnt die Seite der Spielenden wieder von vorne.
- Die Spielleitung handelt genauso oft wie die Spielenden – unabhängig davon, ob sie eine einzelne Kreatur oder hunderte Gegner steuert. Als Gruppe zusammengefasste Gegnerinnen zählen dabei jeweils als eine Einheit.
Warum das gut funktioniert:
- Selbst bei zahlenmäßig überlegenen Gegnern bleibt das Kräfteverhältnis kontrollierbar, da die Spielleitung nicht öfter handelt als die Spielenden gemeinsam.
- Bossmonster brauchen keine absurden Lebenspunkte oder Minions, nur um „dranzukommen“.
- Die Spielenden können tatsächlich planen und ihre Aktionen aufeinander abstimmen.
- Die Erzählung bleibt flüssig, ohne ständige Unterbrechung durch Zahlen.
- Es entsteht ein natürlicherer Rhythmus.
Natürlich ist das nicht perfekt. Kein Rundensystem wird jemals logisch sein. Aber für mich bringt es Balance, Tempo und Erzählfluss erheblich näher zusammen.
Fazit: Perfekt gibt es nicht – aber passender für mich
Manche Gruppen lieben taktische Kämpfe. Manche Spielleitungen toben sich gern in komplexen Encounter-Designs aus. Ich aber möchte flüssiges Rollenspiel, Kämpfe, die Spannung erzeugen, ohne den Spielfluss zu brechen, und Dynamik statt Zahlenfolgen. Meine Initiative-Methode ist ein Schritt dahin. Nicht perfekt, aber stimmig für mich – und vielleicht auch für dich.
Zur Erlärung hier zwei Beispiele aus dem „Der Herr der Ringe“ Kosmos.
Beispiel 1: Wenige Charaktere gegen viele Gegner
Die Schlacht um Helms Klamm
Aragorn, Gimli und Éomer stürmen gemeinsam aus dem Tor von Helms Klamm und reiten in die Reihen der Uruk-hai. Vor ihnen stehen hunderte Gegner – doch im Moment des Angriffs handeln sie als geschlossene Masse.
In einem klassischen Initiativsystem müsste nun jeder einzelne Gegner irgendwie „untergebracht“ werden oder in Gruppen zusammengefasst werden, um den Kampf überhaupt spielbar zu halten. Das führt schnell zu vielen Angriffen auf Spielendenseite und zu einem zähen, mechanischen Ablauf.
Mit einer Seiteninitiative hingegen bleibt die Szene übersichtlich und filmisch:
Die Helden handeln gemeinsam, aufeinander abgestimmt, treiben ihre Pferde voran, schlagen Schneisen in die Reihen der Orks. Danach reagiert die Gegenseite als Einheit: Orks fallen, andere stemmen sich gegen den Ansturm, Speere werden erhoben, Pfeile fliegen.
Ob es zwanzig oder zweihundert Orks sind, spielt für die Dramaturgie keine Rolle – sie blockieren Wege, üben Druck aus, fügen Schaden zu, aber sie überrennen die Helden nicht allein durch ihre Anzahl. Genau so wirkt die Szene im Film: chaotisch, gefährlich, aber nicht absurd tödlich.
Beispiel 2: Mehrere Helden gegen einen Gegner
Gandalf, Aragorn, Legolas und Gimli gegen den Balrog von Morgoth
Ein einzelner Gegner – aber was für einer.
Der Balrog in Moria ist kein „Monster mit vielen Trefferpunkten“, sondern eine Naturgewalt. Er dominiert den Raum, zwingt die Helden zur Reaktion und greift immer wieder entscheidend ein.
In einer Seiteninitiative handelt der Balrog genauso oft wie die Gruppe insgesamt.
Das bedeutet:
Die Helden können sich absprechen, aufeinander reagieren, versuchen, das Wesen zu binden oder abzulenken – doch zwischen ihren Aktionen schlägt der Balrog zurück. Feuer peitscht durch die Halle, die Brücke erzittert, Gandalf muss eingreifen, bevor alles zusammenbricht.
Der Balrog braucht keine Minions, keine künstlichen Zusatzaktionen und kein aufgeblähtes Lebenspunktepolster. Seine Macht zeigt sich durch Wirkung, nicht durch Häufigkeit der Züge.
So entsteht genau das Gefühl der Szene:
Nicht „vier Helden kloppen nacheinander auf ein Ziel ein“, sondern ein verzweifeltes Ringen gegen etwas, das jederzeit alles beenden kann.
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