Ich habe mal irgendwo gelesen, dass man High Fantasy und Sword & Sorcery als literarische Genres anhand einer einfachen Frage unterscheiden könne: Gibt es einen rechtmäßigen König (oder – seltenst – eine Königin)? Dann ist es High Fantasy! Bonuspunkte, wenn der König im Exil oder im Verborgenen ist und wieder auf den Thron zurückgehievt werden muss. Wenn Aragorn, Sohn des Arathorn erstmal den Thron von Gondor hat, dann herrscht wieder Recht und Ordnung und selbst die stolzen Reiter von Rohan unterwerfen sich ihm klaglos!
Sword & Sorcery, der schmuddelige Cousin von High Fantasy, kennt dagegen keine rechtmäßigen Könige. „Macht korrumpiert“, ruft es einem von dort entgegen und alle Mächtigen, ob Könige, Hexenmeisterinnen oder Hohepriester, sind gierig und verräterisch. Die Protagonisten (oder – leider auch eher selten – Protagonistinnen) dieser Geschichten sind keine Helden, die eine gerechte Ordnung wiederherstellen, sondern Glücksritter, die mit Witz und Kampfkraft ihr Überleben sichern und nach Abenteuern und Beute streben.
Das ist nicht nur eine literaturwissenschaftliche Diskussion, sondern auch relevant fürs Rollenspiel, zumal sich OSR-Systeme stärker auf Sword & Sorcery-Vorlagen wie Conan, Elric, Cugel oder Jirel berufen als es die eher traditionellen Fantasy-Systeme tun. Es gibt auch noch mehr Unterschiede zwischen den beiden Subgenres der Fantasy, aber ich will es bei diesem Punkt belassen: Wird unser Worldbuilding interessanter, indem man den Gedanken eines rechtmäßigen Königtums über Bord wirft? Es gäbe hierzu noch so viel mehr zu sagen, z.B. über unsere Vorstellung von Autorität, über Modelle politischer Organisation, über Formen und Quellen von Legitimität, über soziale Mobilisierung und so weiter. (Hey, ich bin Politikwissenschaftler und finde so was toll!) Aber dazu vielleicht zu anderer Zeit mehr. Stattdessen will ich einfach ein paar Abenteuerideen skizzieren, die sich ergeben, wenn Königinnen und Könige nicht weise und gerecht herrschen, sondern als selbstsüchtige Problembären ihre Untertanen ausnutzen. (Funktioniert sogar außerhalb von OSR-Systemen, *zwinker zwinker*.)
Der gierige Herrscher als Antagonist
Die direkteste Quelle für Abenteuer ist die Gräfin, die mit der Gruppe spinnefeind ist. Vielleicht haben sie in ihren Wäldern gejagt, vielleicht einen ihrer Pläne durchkreuzt, vielleicht will sie bloß ihr Geld oder sie hat Angst vor diesen hochgerüsteten Wanderern in ihrer Domäne. Jetzt schickt sie ihre Schergen aus, um die Gruppe zu jagen. Was nun, liebe Abenteurerinnen und Abenteurer? Will man ständig eine neue Bande Mordbuben von der Zufallsbegegnungstabelle bekämpfen und zusehen, wie die eigenen Verbündeten eingesperrt oder getötet werden, oder wird man das Problem bei der Wurzel packen? So ein Abenteuer ist alleine deshalb schon um so belohnender, wenn man aus einer Underdog-Position heraus gewinnt. Wem kann man trauen, wo findet man unerwartet Hilfe? Welche Kompromisse ist man mit dem Feind seines Feindes bereit einzugehen? Und wenn man gewinnt, was dann? (Unten mehr dazu.)
Wenn die Herrschaft nicht legitim ist, wieso besteht sie dann noch?
Herrschaft ist ein sehr stabiler Zustand und auch eine ungerechte Herrschaft, die von den Untertanen abgelehnt wird, besteht teils noch lange weiter. Daraus ergeben sich interessante Fragen für das Worldbuilding: Wenn die Gräfin so korrupt und verhasst ist, warum ist sie dann immer noch Gräfin? Antwort eins: überlegene Gewaltmittel. Niemand kann gegen sie bestehen, solange sie ihre Söldner bezahlen kann. Antwort zwei: sie hat ihre wichtigsten Rivalinnen und Rivalen auf ihrer Seite, solange sie ihnen die nötigen Zugeständnisse machen kann. Antwort drei: sie hat fremden oder übernatürlichen Beistand. Aber wenn der König ihr seine Gunst entzieht oder sie ihren Thron aus Meteoriteneisen verlässt, ist es mit ihrer Macht dahin. Manchmal kann es sein, dass eine illegitime Herrschaft längst reif für den Verfall ist, aber weiterbesteht, weil niemand einen Umsturz „organisieren“ kann. Alle Untertanen sind unglücklich, die Eliten auch, aber solange keiner den ersten Schritt macht, besteht das alte System fort. Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, ergeben sich also weitere Möglichkeiten für Abenteuer.
Illegitime Herrschaft schafft Konflikt, Konflikt ist interessant
So eine gewissenlose Gräfin muss gar kein Problem mit der Gruppe haben, ja sie nicht einmal kennen, um interessante Situationen um sich herum zu schaffen. Das fängt schon bei der Szenerie an: Ich spiele lieber in einer spannungsgeladenen Umgebung, wo Verrat und Misstrauen nah unter der Oberfläche köcheln, als im wohlgeordneten Königreich von Königin Justizia der Gerechten und ihren stets fröhlich-wackeren Untertanen. Jenseits bloßer Staffage entstehen moralische Fragen ungerechter Herrschaft: Was tun die Charaktere, wenn sie die Halsabschneider der Gräfin dabei erwischen, wie sie mit Feuer und Schwert „Steuern eintreiben“? Was, wenn sie erfahren, dass die Gräfin durch Giftmord und Erpressung an ihren Posten kam? Und zu guter Letzt haben illegitime Herrscher oft das unangenehme Problem, dass andere Leute auch gerne (ihre) Macht haben möchten. In der High Fantasy sind die Fronten klar: hier die Guten rund um den rechtmäßigen Herrscher, dort die fehlgeleiteten Bösen. In Sword & Sorcery hingegen sind die meisten Katzen grau. Möchte man gerne die Gräfin entthront sehen, kann man ihren intriganten Neffen unterstützen oder den revoltierenden Bauern helfen oder sich mit einer fremden Macht zusammentun. Ob es nach dem Sturz der Gräfin besser wird (bzw. für wen es besser wird), ist jedoch offen.
Ungerechte Herrschaft löst die Motivation aus, es besser zu machen
Wenn man niemanden findet, der den Job ordentlich macht, muss man es am Ende selber machen. Weg mit Gräfinnen, Neffen, Bauernanführern und feindlichen Spionen, die Abenteurergruppe hat jetzt selber das Sagen! Und ehe man „Schatzi, wir haben eine Domäne erobert“ sagen kann, fangen die Probleme an. Die Bauern meutern schon wieder, die feindliche Macht hat noch mehr Spione und die Gräfin kehrt als Untote zurück. Von den moralischen Zerreißproben ganz abgesehen! Schicken wir die letzte Einheit loyaler Truppen, um das Grenzland gegen die Orks zu befestigen, oder schlagen wir damit den Bauernaufstand nieder? Wenn man die grausam hohen Steuern senkt, besänftigt das die Bauern vielleicht zeitweise, aber wie will man dann sein Heer weiter bezahlen? Aber vielleicht findet die Gruppe auch einen Weg durch diese Dilemmata. In der echten Welt hat sich noch kein Staat dadurch finanziert, dass seine Regierungschefs uralte Reliquien aus todbringenden Verliesen bergen, aber im Domain Play ist alles möglich.
Es gäbe, wie gesagt, noch sehr viel mehr über die Legitimität von Herrschaft zu sagen. Die meisten Rollenspiele greifen das Thema nicht so sehr auf, wie es ihm gebührt, finde ich. Denkt mal darüber nach, wie ihr Königinnen und Könige in euren Welten darstellt – und ob eine Abkehr von „rechtmäßigen Königen“ euer Setting vielleicht noch interessanter machen könnte.
@kritischerfehlschlag.de
Kennst Du die *First Law* Trilogie von Joe Abercrombie? Falls nicht, würde ich sie Dir unbedingt ans Herz legen. Bei Deinen Ausführungen musste ich sofort an sie denken.
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Passt absolut und ist tatsächlich eine meiner Lieblingsserien.
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@kritischerfehlschlag.de Die erste veröffentlichte Conan Geschichte handelt von ihm als König. Ja Conan hat den Thron an sich gerissen, das mit rechtmäßig ist da so ne Sache.
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@pathfinder2de @kritischerfehlschlag.de Stimmt, Conan tritt zuerst als König von Aquilonia auf! Aber ganz genretypisch ist das nicht sonderlich, weil es auch in diese Story um sein persönliches Überleben geht, sicher nicht um das Wohl des Reiches – auch wenn es Conan nun auch nicht egal, dass Leute leiden. Er ist kein Schurke… außer er hält es für notwendig.
Sword & Sorcery ist in der Hinsicht nicht sonderlich politisch, es geht immer um die persönlichen Episoden.
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@kritischerfehlschlag.de @moonmoth sehe ich im Fall von Conan tatsächlich anders. Es geht oft eben auch gegen das was Howard als negative Seiten der Zivilisation ansieht. Er plädiert gerne für die „Überlegenheit“ der „barbarischen“ Art. Da ist viel völkischer Gedanke dabei inkl. ne gehöriger Portion Rassismus.
Achtung: Ich bin durchaus für eine Trennung von Werk und Autor, denke aber man sollte nicht vollkommen naiv da ran gehen.
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Das bestätigt die Ausgangsthese, finde ich. Er herrscht, weil er die Macht an sich reißen konnte, nicht weil ihm der Thron durch höhere Mächte oder Tradition „zustand“.
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@pathfinder2de @kritischerfehlschlag.de Gut, dass du es ansprichst, da kann ich das einsortieren: Conan (die Figur) ist nicht sonderlich politisch motiviert. Dass auch in den Conan-Geschichten (und noch viel mehr denen mit dem Puritaner Solomon Kane…) Unmengen von Rassismus, kulturellem wie (auch sexistischem) Chauvinismus und "edlen Wilden" stecken, ist unbestritten. Aber die Figuren sind selten motiviert, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
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@moonmoth @kritischerfehlschlag.de Oh ja, volle Zustimmung
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Zur anderen Frage (die leider nicht richtig in die Blogkommentare eingespielt wird): Ich habe noch Best Served Cold, Heroes und Red Country gelesen und fühlte mich sehr gut unterhalten. In gewisser Weise finde ich, dass es Abercrombie gut tut, wenn er nicht den Platz einer ganzen Trilogie füllen muss, sondern es kompakter in einem einzelnen Buch abhandeln muss. Kann ich alle sehr empfehlen.
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@moonmoth @pathfinder2de @kritischerfehlschlag.de Danke für eure Ausführungen. Für mich geht's diese Woche mit einer Conan Kampagne los und ich muss mich noch ein wenig ins setting einlesen
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@titaniumbiscuit @moonmoth @kritischerfehlschlag.de tue Dir selbst einen Gefallen und halte Dich erstmal ausschliesslich an die Howard Geschichten und zwar im Original oder der aktuellen Heyne Überarbeitung.
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@pathfinder2de @titaniumbiscuit @kritischerfehlschlag.de ein sehr guter Rat.
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Habe mich beim Titel gerade verlesen, und frage mich jetzt, was ein „rattenmäßiger König“ wohl ist.
Zur Beseitigung von Königen hatten wir uns vor Jahr und Tag auch schon einmal mit konkreten Beispielen ausgelassen:
https://d6ideas.com/deutsch-wunsch-ist-wunsch-der-konig-muss-weg/
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