Rulings over Rules – Aber wie?

„Rulings over Rules“ (auf deutsch etwa: Entscheidungen/Regelungen statt Regeln) ist ein Kernsatz der OSR. Gemeint ist damit, dass das Spiel wenige feste Regeln hat und die SL stattdessen Entscheidungen nach eigenem Ermessen – wenn auch im Rahmen der Regeln – treffen sollte, um das Ergebnis einer Handlung zu entscheiden. Wären Regeln also wie Gesetze, wären die Entscheidungen eine Auslegung der Regeln durch ein Gericht. Die meisten OSR-Anhänger:innen mögen dieses Prinzip, weil es das notwendige Regelwerk schlank hält, was es wiederum flexibel macht für eigene Hausregeln und Ergänzungen.

Auch die 5. Edition von D&D verweist stellenweise auf dieses Prinzip. Zwar ist 5E deutlich regeldichter als OSR-Systeme, aber auch dort ist nicht alles bis zum Ende geregelt. In Onlineforen wird das aber zuweilen als Nachteil ausgelegt, denn wenn es für etwas keine Regel gebe, wie solle dann eine SL entscheiden? Auch unter OSR-Neulingen sorgt Rulings over Rules manchmal für Verunsicherung.

Vielleicht bin ich zu alt und kann mich nicht mehr erinnern, wie es mir früher mit solchen Situationen ging. Tatsächlich hatte ich auch eine simulationistische Phase, in der ich crunchigere Systeme durchaus mochte. Aber der Wunsch nach einem System, das möglichst viel regelt, erzeugt heute in mir Verwirrung und Schrecken. Gleichwohl kann man die Frage ja auch konstruktiv wenden: Wie macht man eigentlich Regelungen, wo die Regeln aufhören? Damit beschäftigt sich dieser Beitrag. Er ist nicht abschließend, denn Regelungen sind mehr Kunst und Intuition als exakte Wissenschaft – wären sie verregelt, wären es ja Regeln, keine Regelungen mehr.

Mit Regelung meine ich hier eine Entscheidung der SL, zu welchen Konsequenzen eine Handlung eines/einer Spielenden führt. Interessant sind hier nicht die Extreme – die offensichlich unmöglichen oder trivialen Aufgaben – sondern die Grenzfälle: eine Aktion, die funktionieren könnte aber nicht muss. Wie entscheiden wir Spielleitungen diese auf eine Weise, die das Spiel nicht aufhält und in interessante Richtungen weiterbringt?

Ich möchte folgende Heuristik vorschlagen, die man schrittweise durchgeht, bis man eine Frage mit Ja beantwortet und dann dieses Prinzip anwendet, um zu einem Ruling zu kommen:

  1. Gibt es vielleicht doch eine Regel? Die wenigsten SL kennen das Regelwerk auswendig und manchmal fällt es uns nicht ein, ob und wie eine Aktion verregelt ist. Ich würde nicht empfehlen, lange im Regelwerk nachzuschauen (ein Blick in den Index reicht), aber man kann auch die Spielenden fragen, ob ihnen etwas dazu einfällt.
  2. Gibt es einen Präzedenzfall, d.h. habe ich schon einmal eine Regelung für eine vergleichbare Situation getroffen? Als die Gruppe letzte Woche mit dem Boot gegen eine reißende Strömung anruderte, habe ich alle Spielenden Stärkeproben würfeln lassen, also verwende ich bei der erneuten Bootsfahrt die gleiche Probe. Das heißt nicht, dass so eine Regelung unveränderlich sein muss. Hat man im Nachgang der Sitzung Unbehagen mit einer Regelung, kann man dies auch für zukünftige Fälle verändern. Dies sollte man aber der Gruppe unbedingt mitteilen, denn die Spielenden verlassen sich darauf, dass ihr Weltwissen gültig bleibt: „Als die Hängebrücke unter euch brach, habe ich euch Geschicklichkeitsproben würfeln lassen. Künftig möchte ich lieber Rettungswürfe für solche Situationen verwenden, okay?“
  3. Gibt es eine Regel für ähnliche Situationen? Dann nimm diese Mechanik. Wenn Brondobar der Zwerg einen Stein nach dem Hebel auf der anderen Seite der Grube wirft, dann ist das wie ein Angriff mit einer Wurfwaffe. Wenn Gytha die Walküre eine riesige Statue umstürzen will, dann ist so ähnlich wie ein „Türen öffnen“-Wurf.
  4. Kannst du aus deiner allgemeinen Spielphilosophie eine Regelung ableiten? Wenn es weder Präzedenzfälle noch ähnliche Regeln gibt, kann man eventuell Entscheidungen auf der Basis der abstrakten Vorstellungen darüber treffen, wie man das Spiel leiten möchte. Verfolgt man z.B. einen simulationistischen Ansatz, geht es darum, wie eine Situation möglichst realistisch abgebildet werden kann. Demgegenüber will man mit einer „default to yes“-Philosophie die Handlungen der Spielenden aufgreifen und eine flotte Geschichte erleben. Oder man sucht mit einem eher cinematischen Ansatz nach Wegen, das Spannungslevel hochzudrehen und dramatische Situationen zu erzeugen.
  5. Wenn alles andere nicht mehr hilft, wirf eine Münze. Oder wenn du ungefähre Wahrscheinlichkeiten abschätzen kannst, würfel 1W6 mit einer bestimmten Chance. Wenn die Wachen eine halbe Stunde für eine Patrouille brauchen, besteht eine Chance von 1 auf 1W6, dass sie in der Nähe sind, wenn die Gruppe über die Mauer klettert. Wenn man die flüchtende Diebin zu einer Kreuzung mit drei anderen Wegen verfolgt, ist die Chance den richtigen zu wählen 1-2 auf 1W6.

Solche Regelungen sind ein hohes Gut, denn die Spielenden werden sich im Spiel an bisherigen Auslegungen der SL orientieren. Radikale Kursänderungen sollte man daher lieber vermeiden. Wenn Unmut unter den Spielenden entsteht, sollte das Anlass zu einem Gespräch sein (am besten nach der Sitzung, um den Spielfluss nicht abzuwürgen), denn das Vertrauen der Spielenden in die Fairness der SL ist eine wichtige Grundvoraussetzung für ein schönes Spiel.

Transparenz kann dafür auch ein gutes Mittel sein, insbesondere in Situationen, wo der Einsatz hoch ist. Als in meiner Swords & Wizardry-Kampagne die Waldläuferin einen Schatz vom Altar stehlen und dann abhauen wollte, ehe die Wächtergolems erwachten, sagte ich der Spielerin vorab, dass wir mittels eines Initiativewurfs entscheiden, ob sie bis zur Tür kommt, ehe die Golems sie einholen. So konnte sie das Risiko vorab einschätzen und dann entscheiden, ob sie sich in diese Lebensgefahr begeben will.

Helfen euch diese Überlegungen? Habt ihr weitere Vorschläge oder andere Vorstellungen, wie man zu einer guten Regelung kommt?

EDIT: Markus hat einen schönen Folgeartikel zu Rulings in regelleichten Systemen ergänzt.

Rackhir (mit Dank an Guennarr für seine hilfreichen Kommentare)

Veröffentlicht von Rackhir

Autor von Zalú und zu vielen anderen Projekten gleichzeitig.

7 Kommentare zu „Rulings over Rules – Aber wie?

  1. Super Artikel!

    Da ich ein paar Jahre Pause nun hatte, ein wunderbarer Text um sich einigem wieder bewusst zu werden.

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  2. @kritischerfehlschlag.de

    Du könntest die anderen Leute am Tisch fragen. Die haben den Kopp auch nicht nur zum Haare schneiden.

    Generell ist die SL eigentlich die letzte Person, die wissen muss, wie wann was gewürfelt wird. Macht sie schließlich am wenigsten.

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  3. Ich glaube hier sprechen zwei verschiedene Spieltraditionen zueinander. Das hängt natürlich vom Tisch ab, aber mir bricht auch kein Zacken aus der Krone, wenn ich die Meinung der Spielenden einhole. Es mag aber das Spiel aufhalten.

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  4. Klar doch. Die eine Tradition heißt halt pbtA (der GM würfelt nicht) und die andere heißt OSR (der DM würfelt am meisten).

    😉

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