Offene Runden eignen sich von ihrer Natur eher für ein Sandbox-Spiel. Wenn die Besetzung von mal zu mal wechselt und jede Sitzung am selben Ort startet und endet, sind das keine günstigen Voraussetzungen für einen fortschreitenden, großen Story Arc.
Tatsächlich ist das eine Kritik, die man manchmal an Sandbox-Kampagnen hört (nicht nur offenen Runden). „Da gibt es keine Story! Man zieht nur von Raum zu Raum, Dungeon zu Dungeon, Hex zu Hex und nichts hängt zusammen, nichts geht voran“, sagt der Strohmann, den ich mir dafür engagiert habe. (Danke, Strohmann, du kannst die Gage am Ausgang abholen.) Abgesehen davon, dass man auch in rein ortsbasierten Abenteuern Geschichten vermitteln kann (environmental storytelling, anyone?), verkennt dieser Einwand, wie Stories entstehen können.
„Storylines verhindern wirklich freies Spiel. Das ist quasi Railroading“, schallt es aus der anderen Richtung. (Danke, Strohmann, gute Arbeit heute!) Aber das ist mir eine zu enge Vorstellung von Geschichten, als könnten diese nur durch die Vorgabe der Spielleitung zustande kommen.
Um dies zu erklären, gehen wir induktiv vor, das heißt, wir schließen vom Speziellen aufs Allgemeine, und zwar anhand von vier Beispielen aus meiner Zalú-Kampagne, die diese Woche ihre 31. Sitzung hatte.
- Unter dem Blauen Tor war Masego, der Zalú-Magier, in einen Bannkreis mit einem Erzteufel eingesperrt und focht einen endlosen Kampf gegen ihn aus. Befreien konnte man ihn nur mit einer speziellen Schriftrolle, die eine Expedition nach langer Suche schließlich im Labor von Nandi Gono, Masegos Geliebter, fand. Zwischen dem ersten Fund des Bannkreises und der Befreiung des Magiers lagen über 25 Sitzungen und als Masego frei war, hatte einer der Spielenden umfangreiche Notizen mitgebracht, an welchen Stellen man Hinweise auf Masego, Nandi und die Schriftrolle gefunden hatte.
- Monatelang wurde der Himmel immer röter und die Weisen und Seher verkündeten ein großes Unheil, das durch die Wüste ziehe. Dann berichteten Späher, dass Gilgus der blinde Titan mit seiner Gnollarmee in Richtung Uyovu kam, um dort wieder in den Dienst seiner infernalischen Herrin Hagelschwinge zu treten. Die Gilde half mit, eine Armee aus Söldnern, Mietlingen und Agamenmenschen aufzustellen, die Gilgus vor den Mauern Uyovus abfing und in einem harten Kampf besiegte.
- In einem Geheimraum des Nachtbasars fanden die Abenteurer:innen Kultgegenstände von Ashartas, der vergessenen Gottheit eines Volks von Schlangenmenschen, welches die Elfen in grauer Vorzeit besiegt und vernichtet hatten. Einer der SCs nahm den Schlangendolch an sich und wurde von diesem gerettet, als er sein Leben im Kampf gegen einen Mehriman (einen Bocksdämon) verlor. Nun sucht dieser SC nach Möglichkeiten, Ashartas zum Leben zu erwecken, was angeblich hinter den „Silbernen Türen“ möglich sein soll. Weiterhin hat die Gilde in Nandi Gonos Palast beunruhigende Hinweise gefunden, dass sie selbst am Feldzug gegen die Schlangenmenschen beteiligt gewesen sein soll und quasi unsterblich war. Mal sehen, wo das noch hinführt.
- Helm, der Dieb verliebte sich unglücklich durch einen Wurf auf der Carousing Table. (Diese Tabelle ist so toll!) Sein Nebenbuhler Wistari, ein schnöseliger Elf, wurde zum ersten wiederkehrenden Rivalen der Gilde, mit dem sie in Heram und Uyovu immer wieder über Kreuz lagen. Am Ende ermordete ihn Helm hinterrücks und wurde dafür mit einem dämonischen Mal bestraft. Alenia, seine Angebetete, schreckte angsterfüllt vor diesem Mal zurück, so dass Helm nach einer Möglichkeit suchte, sich wieder davon zu befreien. Das gelang ihm letztendlich durch seinen Heldenmut im Kampf gegen Gilgus den Titan.
Manche dieser Stories sind emergent, d.h. sie entstehen erst aus dem Handeln der Spielenden (Helm vs. Wistari). Ohne eine bestimmte Handlung der Spielenden entstehen diese Stories gar nicht erst. Sie kommen durch die Interaktion untereinander zustande oder indem ein SC eine Agenda verfolgt, auf die die Spielleitung reagiert. Im obigen Beispiel gab es Wistari und Alenia gar nicht bis zu dem schicksalhaften Wurf auf der Carousing-Tabelle.
Andere Stories entstehen im Wechselspiel von Spielenden und Spielleitung. Die Ashartas- und Masego-Stories begannen als Hooks aus dem Spiel. Bei Masego waren einfach mehrere Locations miteinander verbunden und das Rätsel wurde über eine lange Zeit entschlüsselt. Es hätte aber auch ganz anders laufen können, z.B. indem man nicht den Elfenmagier, sondern den mit ihm eingesperrten Erzteufel befreit, der dafür eine große Belohnung versprach. Ashartas fing zunächst nur als Fund einiger Gegenstände an, aber dann eskalierte die Story dadurch, dass ein SC unter den Einfluss des Schlangengottes fiel.
Und manche Stories habe ich als Spielleiter ins Spiel gebracht und vorangetrieben. Den Angriff des Titanen habe ich über viele Sitzungen vorbereitet und angekündigt und er hätte in jedem Fall stattgefunden, ohne dass die Spielenden ihn hätten verhindern können. Aber sie waren auch nicht gezwungen, sich damit zu befassen – wäre Gilgus nach Uyovu gelangt, hätte das interessante Folgen gehabt, aber nicht die Kampagne beendet. Und sie waren völlig frei in der Wahl ihrer Mittel. Theoretisch hätten sie sich sogar mit Fraktionen der Teufel verbünden können, die mit Hagelschwinge verfeindet sind.
Man sieht also: Geschichten sind auch in offenen Sandbox-Runden ohne übergeordnetes Narrativ und mit wechselnder Besetzung möglich. Sie erfordern von den Spielenden, dass sie sich auf die Lore der Welt einlassen und dort Anknüpfungspunkte und Motivationen für ihr Handeln suchen. Die Spielleitung sollte diesen Bestrebungen keine Hindernisse in den Weg legen, Ideen aufgreifen und in Beziehung zu vorhandenen Spielelementen setzen. Das bereichert nicht nur die unmittelbare Spielerfahrung, weil es aktives Spiel belohnt, sondern macht auch die Welt tiefer und reicher.
Ich würde sagen, das „Geheimnis“ liegt darin, die Spielwelt zu verwalten, nicht die Spielergruppe.
Handlung findet in der Kampagnenwelt statt. Die NSCs kennen keine „downtime“. Das Prinzip der „1:1 time“ bedeutet, dass in der Spielwelt genau so viele Tage vergehen wie in der realen Welt.
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Das fasst es gut zusammen, finde ich. Auch wenn ich die time records nicht immer so strict keepe, wie es St. Gary uns einst auftrug.
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1:1 time ist erst dann wichtig, wenn man keine feste Gruppe hat, sondern open table oder mehrere Gruppen oder mehrere Charaktere pro Spieler. Downtime-Aktivitäten etc werden dann leichter nachvollziehbar für alle.
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